Am Ufer

In dieser Folge erfahrt ihr, wie das Autogrammbuch seinen Weg zu Livio gefunden hat. Ich werde euch auch erzählen, wie ich Livios Großmutter kennengelernt habe, die uns als Verbindung zu Eugen Zellers Familie diente.

Zu einem gewissen Zeitpunkt in seinem Leben begann Livio, sich für seine Familiengeschichte zu interessieren, wie es viele in ihren Dreißigern tun. Er befragte seine Großmutter Erda intensiv, die er regelmäßig in ihrem Haus in Arlesheim nahe Basel besuchte. Viele Nachmittage verbrachte er in ihrem lichtdurchfluteten Wohnzimmer, das zu einem Garten mit zahlreichen Rosenbüschen und einem Teich voller Wasserlilien und Frösche führte. Dort hatte Livio seine Kindheit verbracht und nun bemerkte er, wie die Zeit auch seine Großmutter langsam einholte. Umso mehr drängte es ihn, von ihr so viel wie möglich über die Familie zu erfahren. Eines Tages erzählte ihm Erda von einem Autogrammbuch, das sie von ihrer Tante Elsa, der Schwester ihrer Mutter, erhalten hatte.

„Wahrscheinlich bekam es zuerst meine Großmutter, und dann kam es zu Tante Elsa. Sie lebten zusammen. Geh doch mal nach oben und hol ein braunes Büchlein aus dem Schrank“, sagte sie.

Livio war fasziniert von diesem Autogrammbuch und den Persönlichkeiten, die darin ihre Widmungen hinterlassen hatten. Und da sich niemand sonst in der Familie dafür interessierte, schenkte Erda dieses Autogrammbuch Livio. Es sollte in den Händen von jemandem sein, der es zu schätzen wisse, meinte sie.

Als ich nach einiger Zeit wieder in die Schweiz kam, schlug Livio vor, gemeinsam seine Großmutter zu besuchen. Er wollte unbedingt, dass ich sie kennenlernte und sie selbst für unser Projekt befragen könne.

An einem Samstagnachmittag erreichten wir Erdas Haus in Arlesheim. Sie öffnete uns die Tür mit einer sanften Ausstrahlung, die mich an Prinzessin Diana erinnerte. Ich dachte sofort, dass Diana, wenn sie länger gelebt hätte, vielleicht ähnlich ausgesehen hätte – schlicht elegant und zurückhaltend freundlich. Doch schon bald öffnete Erda herzlich die Tür zu ihrer Welt.

Erda Kaganas war eine Künstlerin. Neben dem Wohnzimmer und der Lesestube befand sich im Erdgeschoss ihr Atelier, voller Bilder, Pinsel und Farben. Eine Bibliothek, die das Atelier vom Wohnzimmer trennte, enthielt viele philosophische Werke, die Erda gerne studierte. Ihre Großeltern waren mit der Familie Zeppelin und den Eltern von Carl Gustav Jung befreundet. Erda besuchte auch frei die Vorlesungen von Karl Jaspers an der Universität Basel und nahm an seinen Seminaren teil. In einem seiner Bücher fand sich eine Widmung von ihm, um die sie ihn jedoch nie gebeten hatte – das hatte ihre Tochter veranlasst.

Basel, Austrasse 126 (2. Haus von links; grauer Wandputz). Dort lebte Karl Jaspers zusammen mit seiner Frau Gertrud (1966)

“Meine mittlere Tochter war etwa acht oder neun Jahre alt, als sie zu Karl Jaspers ging. Wie sie seine Adresse herausfand, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie im Telefonbuch nachgeschaut oder jemanden gefragt – sie war in solchen Dingen immer sehr geschickt. Sie erzählte mir nicht, wie sie auf die Idee kam, sondern sagte nur, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie gehe irgendwohin und ich solle nicht fragen, wohin, aber sie würde bald zurückkehren. Ich dachte mir, sie ist vernünftig und wird nichts Unüberlegtes tun.

Karl Jaspers mit seiner Frau Gertrud Mayer-Jaspers (1966 in Basel)

Als sie bei Jaspers ankam, klopfte sie an die Tür. Frau Jaspers öffnete und meine Tochter bat um eine Widmung von Herrn Jaspers in einem Buch. Sie erklärte, dass ich Herrn Jaspers sehr schätze. Frau Jaspers bat sie, einen Moment zu warten, wahrscheinlich im Flur, das weiß ich nicht genau. Jedenfalls schrieb Herr Jaspers mir die Widmung, die du gesehen hast.

Als meine Tochter zurückkam, fragte ich sie, warum sie gerade dieses dicke Buch ausgewählt hatte, ein Buch über die Wahrheit. Sie erklärte, dass sie wollte, dass Herr Jaspers sieht, wie viel ich lese – es war das dickste Buch, das sie finden konnte. Sie hatte sich also große Mühe gegeben, um mir dieses besondere Geburtstagsgeschenk zu machen.”

Die ehemalige Praxis in Kreuzlingen

Erda selbst wurde in Kreuzlingen, im Kanton Thurgau, geboren und zog später nach Basel, wo ihr Mann eine Stelle als Arzt bekam. Ihr Vater war ebenfalls Arzt und hatte in Kreuzlingen seine Praxis. Dort ging Erda zur Schule und lebte, bis sie einen jungen Arzt heiratete, der nach dem Tod ihres Vaters die Praxis übernahm.

“Bei uns wurde oft musiziert; es gab immer Musikabende, und bei diesen sang mein Vater. Er wollte ursprünglich Sänger werden, entschied sich dann jedoch, die Klinik – das Kurhaus seiner Eltern, meiner Großeltern – zu übernehmen. Meine Mutter spielte sehr gut Klavier, eigentlich auf Konzertniveau. Dann kamen verschiedene Freunde mit Geige, Flöte und anderem, und sie spielten zusammen Konzerte, das war immer wieder schön.

Claire - die Mutter von Erda

Als ich zehn Jahre alt war, ist mein Vater gestorben, dann hat das aufgehört. Aber meine Mutter spielte weiterhin jeden Tag sicher zwei Stunden. Sie spielte uns am Abend Volkslieder und Lieder, die wir uns wünschten. Wir sangen mit, und auch meine Freundinnen und Nachbarinnen kamen dazu und sangen mit. Es war einfach jeden Abend um eine bestimmte Zeit. Am meisten wurden die “Lumpen Mädchen” gewünscht. Die wollten wir natürlich am liebsten hören, aber meine Mutter kehrte immer wieder zu den Volksliedern zurück, die sie am liebsten mochte. Ich kenne sämtliche Volkslieder deshalb, aber leider wurde später nicht mehr so viel gesungen.”

Ich war vom Treffen und den Gesprächen mit Erda sehr beeindruckt. Auf eine gewisse Art schaffte sie es, uns den Zeitgeist der erzählten Geschichten zu vermitteln. Plötzlich wurde es mir wichtiger, sie über ihr eigenes Leben zu befragen, als wäre sie eine Brücke zum Eugen Zeller. Letztendlich war sie diejenige, die das Autogrammbuch aufbewahrt und Livio weitergegeben hatte. Wir wollten die Orte ihrer Kindheit mit eigenen Augen sehen. So verabredeten Livio und ich uns, bald nach Kreuzlingen und später nach Romanshorn zu fahren, wo Eugen Zeller geboren wurde.

Zuerst besuchten wir Kreuzlingen. Wir näherten uns dem Haus, in dem Erda mit ihrer Familie ihre Kindheit verbrachte. Dort fanden nicht nur Konzertabende statt, sondern es war auch während des Zweiten Weltkriegs eine kurze Unterkunft für viele Geflüchtete.

„Meine Mutter nahm oft Leute auf, eigentlich immer, wenn sie gefragt wurde. Einer davon war ein Schmuggler, der Menschen über die Grenze brachte. Er kannte eine Stelle, wo die Grenze ein Loch hatte, durch das er Juden und andere verfolgte Gruppen brachte. Diese Menschen kamen dann zu uns, übernachteten und wurden später in der Schweiz untergebracht. Es war immer wieder jemand da, der von schrecklichen Erlebnissen in der Gefangenschaft erzählte. Diese Geschichten belasteten mich sehr; manchmal konnte ich vor Sorge nicht schlafen. Aber diese Menschen waren bei uns und wollten ihre Erlebnisse mit jemandem teilen.“

Girsas Kaganas - der Ehemann von Erda

Der Mann von Erda war auch jüdisch und kam aus Lettland. Dank seines Medizinstudiums in der Schweiz konnte er den Holocaust überleben und wurde sogar 100 Jahre alt. Ich dachte viel an ihn, vor allem, weil mir selbst schon bekannt war, was der Krieg bedeutet. Meine Heimatstadt war seit einigen Jahren unter Besatzung, mit vielen Verwandten und Freunden hatte ich den Kontakt verloren und meinen Vater konnte ich bis zu seinem Tod nicht mehr sehen. Der Krieg ist für die Ukraine nicht in den Geschichtsbüchern geblieben, sondern war real. Man erlebte die Schrecken des Krieges mitten in Europa. Während unserer Reise musste ich immer wieder an Erdas Mann Girsas denken. Wie war es für ihn zu wissen, dass seine ganze Familie, sein ganzes Volk in Lebensgefahr waren?

„Das war für ihn natürlich eine schreckliche Situation, da er keinen Kontakt zu seiner Familie hatte. Er wusste nicht, ob er jemals etwas von ihnen hören würde. Doch dann gelang es ihm über das Rote Kreuz, Verbindung zu seiner Mutter aufzunehmen, was ihn sehr erfreute. Er war ihr sehr nahe, weil sie es ihm überhaupt ermöglicht hatte wegzugehen. Die Mutter war für ihn ganz wichtig.“

Nun standen wir vor dem Haus, wo Girsas seine künftige Frau kennengelernt hatte. Dieses Haus konnten wir nur von außen anschauen und uns das frühere Leben von Erdas Familie vorstellen. Im Garten neben dem Haus liefen ruhig Zebras, die die von Erda erzählten Geschichten und die Gegenwart zusammenschmelzen ließen und surreal machten. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand eine alte Kirche, in deren Nähe Erda zur Schule ging. Jeder von uns visualisierte eigene Bilder im Kopf und rief bestimmte Erinnerungen von Erda ins Leben. Am Ufer des Bodensees im Schatten machten Livio und ich eine Pause, bevor wir nach Romanshorn weiterfuhren. Wir versuchten, uns diese kleine Stadt vor 70 oder 80 Jahren vorzustellen. Auf der anderen Seite des Sees konnten wir Deutschland sehen und die gemütliche Stadt Konstanz. Wir beide mussten gleichzeitig an die Geschichte über den Dackel denken, die uns Erda zuvor erzählt hatte.

Kleine Erda mit dem Dackel

„Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen, aber unser Dackel ging regelmäßig zur Bushaltestelle. Er musste ein gutes Stück laufen, bis er dort ankam. Dort wartete er, bis der Bus kam, und stieg ein. Die Leute fragten oft: ‚Was macht der Hund hier?‘ Aber unser Hund war so lieb, dass er das durfte. Der Dackel fuhr bis nach Konstanz am Bodensee, machte dort einen Spaziergang, ging zurück zur Haltestelle und fuhr wieder nach Hause. Damals war noch kein Krieg, und man konnte problemlos die Grenze überqueren.“

In den Spuren des Dackels wollten wir auch Konstanz besichtigen. Aber zuerst wartete auf uns eine ganz besondere Stadt. Romanshorn. Dort wurde Eugen Karl Zeller in der Familie von einem Apotheker und dem Erfinder des „Zellerbalsams“ geboren. Das Portrait von Eugens Vater, Max Zeller, hing bei Erda im ersten Stock. Wir wollten hinter dieses Portrait hineinschauen. Die Geschichte jener Familie war für uns nicht weniger wichtig als die Familiengeschichte von Erda. Wir hatten die Hoffnung, Spuren des früheren Lebens von Eugen Zeller zu entdecken und ebenso zu versuchen, uns vorzustellen, wie die Stadt vor mehreren Jahrzehnten aussah.

24.04.2024

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Wer bist du, Eugen?