Auf der Suche nach verwischten Spuren

Mit diesem Text starte ich eine neue Reihe von Blogeinträgen. Sie widmen sich meinem neusten Buchprojekt und beschreiben die Recherche Schritt für Schritt. So kannst Du mitverfolgen, wie ein Buch entsteht. Manchmal dauert dieser Prozess Jahre oder sogar Jahrzehnte, bevor Leserinnen und Leser das Buch in den Händen halten können.

Dieser Text wurde am 01.05.2019 verfasst und lädt Dich ein, mich auf dieser Zeitreise zu begleiten.

Ich war schon früher in Stuttgart. Vielleicht vor zehn Jahren oder ein bisschen weniger. Aber damals war es eine ganz andere Geschichte, obwohl es auch da um das Schreiben eines Romans ging. Dieses Mal ist alles vollkommen anders. Klar, wenn ein Buch zu Ende ist, wird ein neues und ganz anderes geschrieben. Ich muss also auch eine ganz andere Brille aufsetzen, oder sie vielleicht abnehmen. Eine Lupe nehmen, um die Spuren und Gedanken von Eugen zu finden. Ich möchte seine Brille aufsetzen. Sein Stuttgart sehen. Es ist so wichtig für… uns.

Wir sind früh aufgestanden, um mit dem Morgenzug nach Stuttgart zu fahren. Wir haben schon früher über diese Reise gesprochen, waren aber nicht bereit. Jetzt sind wir auch bei schlechtem Wetter parat. Vor einigen Tagen bin ich aus der Ukraine in die Schweiz gekommen. Es war schon sehr warm, als ich in Basel ankam. Und jetzt ist es plötzlich kalt und regnerisch geworden. Typisch April. Aber nein, wir denken nicht daran, die Reise aufzuschieben. Auf keinen Fall! Den Regenschirm nehmen und los.

Die Tür des Zuges ist zu. Die Gebäude verschwinden langsam, Bäume und Felder tauchen vor unseren Augen auf. Was finden wir da am anderen Ende der Strecke? Finden wir überhaupt etwas? Warum hat Eugen aus vielen Städten eigentlich Stuttgart ausgewählt? Wir fragen uns immer wieder. Fragen und schlafen ein.

Der Bahnhof. Die Kälte ist überall. Die Stadt ist ganz mit Kälte erfüllt. Die Schuhe werden sofort nass. Der Regenschirm? Der Zug ist wieder abgefahren. Der Regenschirm ist im Zug geblieben… Livio möchte einen neuen kaufen. Ohne geht es hier nicht. Womit sollen wir anfangen? Die Stadt sieht überhaupt nicht so aus, wie wir sie auf den alten Bildern gesehen haben. Vielleicht haben wir Glück und finden im Staatsarchiv etwas.

“Entschuldigen Sie, wir suchen Informationen über eine wichtige Person. Der Mann hat den größten Teil seines Lebens in Stuttgart gelebt. Er ist auch in Stuttgart gestorben. Wir möchten sehr gerne den Ort finden, wo er begraben wurde. Nein, wir wissen nicht, ob er eine bekannte Person war. Er hatte aber Verbindung mit einer Menge berühmter Personen seiner Zeit. Nein, das wissen wir auch nicht, aber er ist sehr wichtig für uns und seine Geschichte, verstehen Sie?”

Gut, dass man uns hier versteht. Wir gehen die Treppe hinauf und befinden uns in einem Lesesaal. Alles ist perfekt eingerichtet. Strenge Tische stehen schweigend, schlanke Lampen neigen sich über den alten Dokumenten. Stille. Man hört nur, wie die Suchenden die Geschichte durchblättern. Ein Archivar nähert sich uns. Er durchbricht die Stille. Spricht schnell und monoton. Stellt viele Fragen und notiert sich alles. Er will uns unbedingt helfen. So nimmt er seine Notizen und verschwindet. Wir verschwinden auch unter den Büchern, lösen uns in Tausenden Blättern der Geschichte auf. Es gibt hier so viele Wörter, die zu uns schweigen und uns ihre Geheimnisse nicht verraten wollen. Wir warten geduldig in der Stille, bis unser Begleiter zurückkommt.

Er kommt nach einer Weile wieder. Ja, er hat überall gesucht, hat aber nichts gefunden. Nichts. Es tut ihm sehr leid. Er gibt uns dafür andere Hinweise, wo wir noch suchen können. Sein Kollege kommt auch kurz, um mit uns zu sprechen. Damit unsere Enttäuschung nicht so groß ist. Das wollen die beiden nicht, deswegen sprechen sie viel und geben viele Informationen, wo wir weiter suchen könnten. So gehen wir. Suchen.

Die Straßen sind unendlich kalt und nass. Wir wollen aber keine Tram nehmen. Wir möchten diese Distanzen mit unseren Füßen spüren. Die, die Eugen Zeller zu Fuß gemacht hat. Livio hat schon früher die Adressen in alten Adressbüchern gefunden, wo Eugen gewohnt hat. Er macht eine Liste und wir gehen los. Der neue große Regenschirm schützt uns. Nein, keine Archive mehr für heute. Wir werden die Geschichte von Eugen abtasten. Wenn der Regen sie nicht von uns wegschwemmt.

“Ich hätte gedacht, dass sie etwas finden würden.”

“Keine Antwort ist auch eine Antwort. Wir wissen, wo wir nicht mehr suchen müssen und wohin wir weiter sollen.”

“Oh, es ist hier! Gegenüber dieser Schule. Weimarstraße 19. Siehst du das Haus? Hier taucht er zum ersten Mal im Adressbuch auf.”

“Wie alt war er?”

“Hm… 1898. Er war 25 Jahre alt. Schau mal, die Tür ist alt. Vielleicht stammt sie noch aus seinen Zeiten.”

Also ist er als junger Mann aus der Schweiz hierher gezogen. Es ist gar nicht so weit weg vom Zentrum. Aber schon sechs Jahren später hat er den Wohnort gewechselt.

“Wohin jetzt?”

“Rotebühlstraße 40 A.”

“Wo sind die schönen Häuser, die wir auf den alten Bildern gesehen haben?”

“Stuttgart wurde doch während des Krieges stark bombardiert und ruiniert. Und nachher folgten noch neue Wellen des Abrisses.”

“Also kein Haus von Eugen?”

“Jetzt ist es ein hässliches Gebäude.”

Livio ist merklich enttäuscht. Dabei weiß er besser als ich, wie viele alten Gebäude in Stuttgart zerstört wurden. Wir haben gehofft, dass die Häuser, in denen Eugen Zeller gelebt hatte, auf uns warten würden. Er hat aber hier nur zwei Jahre gelebt. Noch zwei Adressen, vielleicht haben wir Glück!

1908. Augustenstraße 28. Nichts. Überhaupt nichts ist von jenen Zeiten geblieben. Das neue moderne Gebäude verschluckt viele Hausnummern auf einmal. Um die Ecke kommt gleich die Hermannstraße, unsere vierte Hoffnung. Zum Glück sind hier noch viele alte Häuser stehen geblieben. Aber nicht… nicht das Haus von Eugen. Sein Leben ist vor unseren Augen verschwunden.

“Aber warte, Livio! Ja, wir können zwar sein Haus nicht sehen, aber wir sehen die Häuser, an denen er jeden Tag vorbei gegangen ist und die er angeschaut hat. Die sind sehr schön! Und die Johanneskirche können wir von hier aus sehen.”

Wir sind zum Feuersee gegangen. Die Hermannstraße hat die Abrisswellen immerhin teilweise überlebt. Wahrscheinlich war sie die Straße der Künstler. Daran wollten wir auf jeden Fall glauben. Die Schwäne und Enten hatten ihre Ruhe am See, sie wussten nichts davon, dass 1943 die Johanneskirche beim Bombenangriff getroffen wurde. Sie wissen auch nicht, warum bis jetzt deren Spitze fehlt.

“War Eugen oftmals hier? Vielleicht jeden Tag?”

Stellte Livio diese Fragen der Kirche, dem See oder Eugen Zeller selbst? Livio war sehr nachdenklich, und manchmal, in seiner Körperhaltung, in seinen Bewegungen, vor allem in der Bewegung seines Kopfes sah ich Eugen. Habe ich Eugen Zeller gesehen? Nein. Ich sah Livio und die Spiegelung Eugens in ihm.

“Suchen wir noch die Liederhalle?”

Er hat meine Gedanken unterbrochen. Es ist so herrlich hier, am Feuersee.

“Die Liederhalle? Ja, sicher. Eugen musste oft da gewesen sein.”

Wir wussten beide, dass auch die Liederhalle, die Eugen Zeller besuchte, und wo er u.a. den Schweizer Pianisten und Dirigenten Edwin Fischer am 14. Februar 1913 getroffen hatte, in den Jahren 1943-1944 vollkommen zerstört war. Wir wussten es, wollten aber sehen, wie die Liederhalle umgebaut worden war, und wollten die Mitarbeiter einige Details fragen. Wir wussten nur nicht, dass sie nichts von der ehemaligen Liederhalle wussten. Die Frau mit dem starken Akzent hat uns gesagt, dass hier früher ein Schwimmbad war. Bombenangriff, Zerstörung? Sie hat keine Zeit mehr für uns und wendet sich genervt an die nächste Besucherin.

Wir gehen hinaus und erkennen noch überall die Spuren einer großen Epoche der Kunst in Stuttgart. Nein, diese Stadt war sicher nicht immer so industriell. Das, was Eugen Zeller uns hinterlassen hat, beweist klar und deutlich das Gegenteil. Aber jetzt sollen wir schon langsam zum Bahnhof zurückkehren. Der Regen ist fast vorbei. So wie dieser Tag. Der Zug bringt uns wieder nach Basel.

“In Basel fiel es mir leichter, über das Stuttgart von Eugen zu lesen und mir sein Leben vorzustellen. So aber, wie die Stadt jetzt aussieht, ruiniert sie die ganze Geschichte.”

“Du hast sehr schöne Fotos gemacht. Versuchen wir, uns damit die Geschichte von Eugen im Kopf zu rekonstruieren. Was hat uns der Archivar im Staatsarchiv gesagt? Es wäre gut, nach Romanshorn zu fahren, wo Eugen geboren war. Fangen wir nochmals an? Ganz von vorne an?”

Wer ist eigentlich Eugen Zeller? Und wer ist Livio? Fangen wir doch ganz von vorne an!

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Das erste Treffen

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