Die Gefühle bewahren
Zur Entstehung dieses Buches
Im Jahr 2014, als der Krieg in der Ukraine begann, befand ich mich in der Schweizer Stadt La Chaux-de-Fonds, wo ich an meinem Buch »Das Streichholzhaus« arbeitete. Damals erlebte ich den bis dahin größten Verlust meines Lebens. Und ich spürte, dass weder die Menschen in der Schweiz noch in anderen westeuropäischen Ländern verstanden, was in der Ukraine tatsächlich passierte. Niemand bezeichnete die Annexion der Krim und die Besetzung eines Teils des Donbas als Krieg. In den Medien sprach man oft nur von einem »Konflikt zwischen ukrainischen Bürgern«. Die Aggression Russlands gegen die Ukraine wurde international kaum anerkannt, obwohl sie für mich und viele andere Ukrainerinnen und Ukrainer eindeutig war. In der Schweiz fühlte ich mich mit dieser Tragödie allein.
Meine Heimat war plötzlich besetzt, und ich konnte mir nicht vorstellen, außerhalb der Ukraine zu leben. Daher kehrte ich so schnell wie möglich nach Lwiw zurück, wo ich damals wohnte. Meine Mutter erreichte mich gerade noch mit dem letzten Zug, mein Vater blieb jedoch zurück, weil er sein Zuhause nicht verlassen wollte.
Mein Elternhaus besuchte ich zum letzten Mal im April 2014, nur wenige Monate vor der illegalen Besetzung. Damals sah ich auch meinen Vater zum letzten Mal. Einige Jahre später starb er auf seinem eigenen Boden – so wie er es wollte, obwohl dieser von Feinden besetzt war.
Zurück in Lwiw begann ich, kurze Texte für das sozial-kulturelle Magazin »Prosto neba« (»Unter freiem Himmel«) zu schreiben. Ich wollte den Menschen in der Ukraine die Situation erklären. Denn ich hatte das Gefühl, dass nicht nur Westeuropäer, sondern auch viele meiner Landsleute die Menschen aus den besetzten Gebieten und den Ernst der Lage nicht verstanden. Ich hoffte, mit meinen Worten der drohenden Tragödie etwas entgegensetzen zu können. Die Texte waren für mich ein Hilferuf und halfen mir gleichzeitig, meinen Schmerz zu bewältigen.
Einige dieser Texte eröffnen nun den Erzählband und gehören zum ersten Teil des Buches. Ich habe diejenigen ausgewählt, die gut zur Idee des Buches passen und ohne lange Erklärungen auch für Menschen außerhalb der Ukraine verständlich sind. Besonders wichtig ist mir der Text »Suche deine Tür« aus dem Jahr 2017, nach dem dieses Buch benannt ist.
Nachdem ich zuerst mein Elternhaus und später auch meine Eltern verloren hatte, wurde mein Freund in Basel zu meiner wichtigsten Stütze. Anfang 2021 zog ich zu ihm, und gemeinsam begannen wir, eine neue Familie aufzubauen.
Die Nacht der russischen Großinvasion werde ich nie vergessen. Ich konnte kein Auge zutun und weckte meinen Freund gegen fünf Uhr morgens mit den Worten: »Wach auf. Es hat begonnen.« Wir wussten, dass dieser Krieg irgendwann kommen musste. Wir hatten versucht, meine Schwester und Freundinnen in der Ukraine zu warnen und boten ihnen Hilfe an. Doch sie glaubten nicht, dass es tatsächlich zum Krieg kommen würde. Noch am selben Tag begannen wir, Unterstützung für meine Schwester, Freundinnen und andere Betroffene zu organisieren.
Kurz danach fragte mich die Basler Online-Plattform »Bajour«, ob ich eine Kolumne schreiben möchte. So entstand mein Kriegstagebuch, in dem ich Erlebnisse, Gedanken und später auch Geschichten anderer Menschen festhielt, die vor dem Krieg hatten fliehen müssen oder beschlossen hatten, trotz allem in der Ukraine zu bleiben. Das war für mich eine wichtige Aufgabe. Sie gab mir das Gefühl, etwas tun zu können, in einer Zeit, in der meine Ohnmacht unerträglich war. Ich glaubte daran, dass Worte Kraft haben und mir ermöglichten, auf meine Weise zu kämpfen.
Dem Team von »Bajour« danke ich für das Vertrauen und für die Möglichkeit, dass ich in einer schwierigen Zeit zu seinen Leserinnen und Lesern sprechen durfte.
Später trennten sich unsere Wege, aber ich wollte alle geschriebenen Texte an einem Ort aufbewahren. Ich hatte den Eindruck, dass sie von Bedeutung sind. Dass sie zu einem wichtigen Dokument der ersten Monate der groß angelegten Invasion werden könnten. Diese Texte bilden den zweiten Teil des Buches.
Ich bin überzeugt, dass Literatur Gefühle bewahren kann. Fotos zeigen uns, wie Menschen früher aussahen, aber sie zeigen uns nicht, was diese Menschen fühlten. Literatur, besonders Tagebücher, halten Emotionen lebendig. Deshalb wollte ich meine Texte der »Bajour«-Kolumne für die Zukunft erhalten.
Leider fand ich zunächst keinen Verlag für dieses Buchprojekt. Doch mein Kollege und Freund Christoph A. Müller ermutigte mich, das Buch selbst herauszugeben. Er unterstützte mich tatkräftig dabei, besonders nachdem ich Mutter geworden war. Ohne seine Hilfe beim Lektorat, der Organisation und der Begleitung durch das Projekt hindurch wäre dieses Buch nicht entstanden. Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar.
Die meisten Texte habe ich auf Deutsch, einige aber auf Ukrainisch geschrieben. Mein Freund Matthias Müller hat diese ins Deutsche übersetzt. Trotz beruflicher Verpflichtungen nutzte er seine freie Zeit dafür. Ohne ihn würde diesem Buch etwas Wichtiges fehlen. Auch der deutsch-ukrainischen Autorin Yaroslava Black, die die Gedichte übersetzt hat, danke ich sehr. Ihre Arbeit verleiht dem Buch eine besondere Note.
Im dritten Teil dieses Buches wollte ich all das ausdrücken, was in der Online-Kolumne keinen Platz hatte. Die Geburt meines Sohnes verzögerte die Arbeit, doch dank der Unterstützung meines Mannes und meiner Freundin Olivi Shlomo aus Kyjiw, die für einige Monate zu uns kam, konnte ich diesen letzten Teil in Ruhe fertigstellen.
Ein Buch entsteht nie durch eine einzige Person allein. Es braucht dazu ein ganzes Team. Ich hatte das große Glück, wunderbare Menschen um mich zu haben, die an mich glaubten und mich unterstützten, selbst wenn ich manchmal an mir zweifelte. Sie sind mein größter Schatz.
Die Geschichten im Buch gehen weiter – so, wie leider auch der Krieg weitergeht. Mein größter Wunsch ist, dass dieses Buch irgendwann nur noch eine Erinnerung ist und nicht mehr die Realität beschreibt. Damit das passiert, müssen wir alle – nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer – noch große Anstrengungen unternehmen. Manchmal mit Worten, manchmal mit Taten.
Eugenia Senik
Basel, im Sommer 2025

