Das erste Treffen

In dieser Folge, die ich Ende Mai 2019 geschrieben habe, erzähle ich vom ersten “Treffen” mit dem Autogrammbuch voller interessanter Persönlichkeiten und wie daraus die Idee zu einem Roman entstanden ist.

Er war frei, frei von Vorurteilen, innerlich frei. Diese Freiheit faszinierte mich besonders, als wir uns zum ersten Mal am Neuenburgersee trafen. Erst nach diesem Treffen wagte ich ihm zu sagen, was ich eigentlich bin. Oftmals schreckt das Männer ab, deshalb hatte ich es zuvor nicht erwähnt. Aber ihm wollte ich mein Geheimnis anvertrauen. Es schien, als hätte er keine Angst davor.

„Ich bin Schriftstellerin.“

Ich schließe die Augen und öffne sie wieder... Nein, er ist immer noch da. Man begegnet oft Menschen mit unterschiedlichsten Berufen und Berufungen, doch Schriftsteller oder Schriftstellerinnen trifft man nicht jeden Tag. Daher ist es nicht immer klar, wie man mit ihnen umgehen sollte. Sind sie „normale“ Menschen? Können sie ein „normales“ Leben führen? Seid vorsichtig! Alles, was ihr sagt und tut, könnte später in ihren Texten auftauchen, so wie es oft der Fall ist. Wie Thomas Mann es mit den Menschen aus Lübeck in den „Buddenbrooks“ tat – wofür er sogar den Nobelpreis für Literatur erhielt. Aber…

Livio hört mir aufmerksam zu und macht sich keine Sorgen.

„Meine Großmutter ist Künstlerin.“

Oh! Jetzt können wir ausführlich über Kunst sprechen. Wir sitzen in einem gemütlichen Restaurant und haben gut gegessen. Ich halte jedoch weiterhin eine gewisse Distanz. Als wir über Kunst sprachen, spürten wir, dass diese Distanz zu groß war. Und er war der Erste, der sie verringerte. Er rückte näher zu mir und verriet mir leise sein Geheimnis.

„Ich habe etwas Besonderes von meiner Großmutter bekommen. Ein Autogrammbuch, das meinem Ururgroßonkel gehörte. Er hat Unterschriften von vielen berühmten Personen seiner Zeit gesammelt. Möchtest du es mal sehen?“

„Ja, sehr gerne! Ist Hermann Hesse auch darin?“

„Nein, Hesse nicht. Aber Thomas Mann ist da. Und auch Heinrich Mann.“

Wir verabredeten uns, uns in einer Woche wiederzusehen. Livio fragte mich, ob ich ihn in Basel besuchen möchte. Sehr gerne! Ich wollte ihn definitiv noch einmal sehen. Und das Autogrammbuch auch. In dieser Zeit arbeitete ich in einer Kunstresidenz an einem anderen Roman. Ich plante, den Roman bald zu beenden, war also gleichzeitig offen und bereit für eine neue Geschichte.

Nur wenige Tage später holte mich Livio am Bahnhof in Basel ab. Wir sprachen über vieles, doch nicht über das Autogrammbuch. Hatte er es vergessen? Oder wartete er darauf, dass ich das Thema anspreche? Doch meine Neugier war zu groß, um bis zu unserem nächsten Treffen zu warten.

„Du hast von einem Autogrammbuch erzählt, in dem viele bekannte Persönlichkeiten ihre Unterschriften hinterlassen haben. Darf ich es sehen?“

„Ach ja, natürlich!“

Livio verließ das Zimmer und kehrte nach kurzer Zeit mit einem alten Buch in der Hand zurück. Ich saß auf dem großen weißen Sofa in seinem Wohnzimmer und wartete gespannt auf die neue Entdeckung. Zu meiner Überraschung enthielt das Buch nicht nur Autogramme, sondern auch Gedichte, Notentexte, Bilder und Zeichnungen. Hier entdeckte ich, dass Enrico Caruso unter anderem auch Karikaturen gezeichnet hatte.

In dem alten Buch mit Lederumschlag erkannte ich sofort einige Namen, während mir andere unbekannt waren. Dennoch wollte ich wissen, wer diese Menschen waren. Was hatten sie in ihrem kulturellen Leben geschaffen? Und wer war der Besitzer dieses Buches? Solche und weitere Fragen gingen mir durch den Kopf, während ich die vergilbten Seiten durchblätterte.

„Ich möchte darüber einen Roman schreiben! Livio, es ist unglaublich, was dieses kleine Buch uns heutigen Menschen offenbaren kann. Stell dir vor, das Autogrammbuch ist wie eine Landkarte. Dein Ururgroßonkel hat es seinen Verwandten in der Schweiz überlassen, vielleicht wollte er damit etwas Bestimmtes aussagen. Er wollte es jemandem geben, der diese Karte zu lesen versteht, der sich auf das Abenteuer einlässt, der eine Zeitreise unternimmt! Hier sind Künstler und Wissenschaftler verewigt, die vor den Kriegen geboren wurden, die den Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und einige sogar die Nachkriegszeit erlebten. Sie waren Zeugen der größten Entdeckungen der Menschheit: des Radios, des Fernsehens, der Autos, der Flugzeuge. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Welt grundlegend verändert. Wie haben sie all das erlebt? Wie faszinierend das ist! Kann ich ein Buch darüber schreiben?“

„Ja, mach das doch!“

Livio fand die Idee sicherlich interessant. Er kannte mich jedoch noch nicht lange genug, um sicher zu sein, dass ich es ernst meinte. In einigen Tagen musste ich schon meine Kunstresidenz in der Schweiz verlassen und nach Frankreich weiterreisen. Ich lud Livio ein, mich dort zu besuchen. Ich wollte ihm mehr über meinen Roman erzählen, den ich noch nicht beendet hatte. Oder wollte ich ihm einfach zeigen, wie viel mir Literatur bedeutet? Auf jeden Fall wollte ich ihn noch einmal sehen. Das war klar.

Als er mich in Arc-et-Senans besuchte, sprachen wir kaum über das Autogrammbuch. Ich erzählte ihm von meinem Roman und zeigte ihm mein Literaturlaboratorium. Der Roman handelte von einer Frau, die im Zweiten Weltkrieg als Partisanin in der Westukraine kämpfte. Den Roman hatte ich schon vor langer Zeit zu schreiben begonnen. Ich konnte ihn jedoch nicht beenden, da der Krieg so unerwartet in der Ostukraine ausgebrochen war. Ich fühlte, dass ich auch über den Krieg in meiner Heimatstadt Lutuhyne schreiben musste, trotz der Schmerzen und Albträume. Wie schon früher, hörte Livio auch diesmal aufmerksam und empathisch zu. Eine solche Gabe ist selten. Er erzählte mir auch von seinem Großvater, der vor dem Krieg in die Schweiz gekommen war und als einer der wenigen seiner jüdischen Familie den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überlebt hatte.

In Saline Royale fand ich schließlich die Ruhe, um an meinem Roman „Denn es schmerzt“ weiterzuarbeiten. Hier fühlte ich mich geschützt, die dicken Wände und Mauern brachten mir Sicherheit, sie erlaubten mir, in der Nacht zu schlafen. Ich wollte nun den Roman beenden und nicht mehr zu diesem Thema zurückkehren. Es war zu schmerzvoll und verheerend. Im Autogrammbuch sah ich zuerst einmal die Lebensgeschichten der Künstler und Künstlerinnen. Ich wollte nicht länger über die Zeiten nachdenken, in denen sie gelebt und gewirkt hatten. Nur Kunst, keinen Krieg mehr.

Bevor ich in die Ukraine zurückkehrte, verbrachte ich noch einige Zeit in der Schweiz und besuchte Livio mehrmals in Basel. Er zeigte mir seine umfangreichen Recherchen zum Autogrammbuch: Alle Künstler waren in einer detaillierten Tabelle aufgeführt – Beruf, Nationalität, Quellen zu ihren Biographien, einige ihrer Werke, Ort und Datum der Unterschrift – alles sorgfältig dokumentiert. Es schien, als würde mir sein Material bereits alles Notwendige bieten. Ein Traum für jeden Schriftsteller. Livio war nicht nur bereit, seine Erkenntnisse mit mir zu teilen und mir Zugang zu seinem Material zu ermöglichen, sondern auch weiterhin mit mir in diese Richtung zu arbeiten und mich bei allen Recherchen und Forschungen zu unterstützen. Warum? Weil es ein Teil seiner eigenen, persönlichen Geschichte war, ein Stück seiner Familiengeschichte. Und er fand dieses Abenteuer ebenso interessant und faszinierend wie ich.

Durch Livios Nachforschungen hatten wir bereits viel über die Menschen erfahren, deren Namen im Autogrammbuch standen. Doch über seinen Ururgroßonkel selbst, der dieses Buch so behutsam aufbewahrt und es für wichtig befunden hatte, es an seine Verwandten weiterzugeben, hatten wir fast keine Informationen.

„Wie hieß er eigentlich, dein Ururgroßonkel?“, schrieb ich Livio schon tief in der Nacht.

„Eugen Zeller“, antwortete er. „Ich sende dir die Informationen, die ich über ihn gefunden habe. Leider ist es nicht viel. Er lässt uns mit so vielen unbeantworteten Fragen zurück.“

Eugen... so teilen wir uns also denselben Namen. Ich bin gespannt, lieber Herr Zeller, welches Abenteuer Sie uns vorbereitet haben.

26.05.2019

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