Wer bist du, Eugen?

In dieser Folge erfahrt ihr mehr über unsere Suche nach dem „echten“ Eugen Zeller und darüber, wie man manchmal einer falschen Spur folgen kann.

Meine Zeit in der Schweiz und in Frankreich neigte sich dem Ende zu. Livio begleitete mich zum Flughafen, von wo ich nach Kyiw abflog. Obwohl wir uns für das Abenteuer mit dem Autogrammbuch entschieden hatten, war ich mir nicht sicher, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Alles kam mir vor wie ein schönes Märchen, doch musste ich zurück in die Realität. Zurück zu meinen Aufgaben und zur Arbeit in der Ukraine. Diese Gedanken begleiteten mich, während ich über die Erde flog. Doch als ich in Boryspil landete, erhielt ich sofort eine Nachricht von Livio: "Ich werde dich bald besuchen."

Unsere Zeit der Trennung war mit langen E-Mails gefüllt, und die Forschung zum Autogrammbuch war ein wichtiger Teil davon. Auch aus der Ferne konnten wir an einem gemeinsamen Projekt arbeiten, was die Distanz verringerte und Livios unsichtbare Präsenz für mich spürbar machte.

Die Wintertage in Kyiw waren so kalt, dass die Heizung kaum ausreichte. In der Küche sitzend, umgeben von viel warmem Tee, erhielt ich plötzlich eine E-Mail von Livio. Er schrieb mir über seinen Ur-Ur-Großonkel Eugen Zeller, von dem er vermutete, in einem Artikel gelesen hatte.

Es ging um das Buch "Seien Sie gegrüßt, liebe Freunde in Ulm. Hermann Hesse und die schwäbische Donaustadt" von Jan Haag und Bernd Michael Köhler. Aus dem Artikel erfuhren wir, dass Eugen Zeller ein Philologe und Pädagoge war, der mit Hermann Hesse befreundet war. Ein kurzer Auszug aus dem Buch lautete:

"Was Hermann Hesse und Eugen Zeller teilten, war ihre Leidenschaft für den Landsmann, unfreiwilligen Landpfarrer und Dichter aus Berufung, Eduard Mörike (1804 – 1875). Der Ulmer Lehrer (Zeller, J. H.) sammelte Bücher und Gegenstände aus dessen Nachlass. Hesse war sehr an diesen Devotionalien interessiert und wandte sich mit einer entsprechenden Bitte an den Freund. Ihrem Wunsche ein Mörike-Original zu besitzen, bin ich gerne zur Verfügung, war die Antwort. … Doch von den eigenen Schätzen gedachte er nichts abzugeben. Zeller vermittelte den Kontakt zu Fanny, der zweiten Tochter Mörikes, die zeitweise mit ihrem Mann in Neu-Ulm … "

Ich war so beeindruckt von Livios Entdeckung, dass ich ihm sofort schreiben wollte. Da ich selbst Philologie und Pädagogik in Luhansk im Osten der Ukraine studiert hatte, fühlte ich eine verborgene Verbindung zu Eugen Zeller. Und seine Freundschaft mit Hermann Hesse faszinierte mich noch mehr, da dessen Werke einen großen Einfluss auf mich hatten. All diese Begeisterung wollte ich unverzüglich mit Livio teilen. Dafür benötigte ich nur noch mehr warmen Tee.

"Lieber Livio,

Ich habe den Artikel über Eugen Zeller, den du mir geschickt hast, sofort gelesen. Es hat mich fast um den Verstand gebracht! Nach so etwas kann ich lange nicht einschlafen. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Molotowcocktail im Kopf. Zu viele Gedanken, Reflexionen, sogar Erinnerungen aus meinem eigenen Leben. Vor allem der Name - Eugen. Dann Philologe, Pädagoge. Erinnerst du dich, dass ich dich in Neuchâtel fragte, ob im Buch ein Autogramm von Hermann Hesse ist? Es war eine zufällige Frage. Aber Eugen Zeller brauchte kein Autogramm von Hesse, weil sie so eng befreundet waren. Er besaß bestimmt viele Briefe von ihm.

Die Persönlichkeiten im Autogrammbuch sind sicher interessant, aber Eugen Zeller ist für mich viel interessanter. Sein Autogrammbuch zeigt mir, dass er die Musik liebte. Er war der Literatur nahe, aber es gibt nur wenige Schriftsteller darin. Musik war seine Leidenschaft. Dann verstehe ich auch, warum er eigentlich so eng mit Hesse befreundet war. Wenn du “Das Glasperlenspiel” von Hesse liest, dann verstehst du alles! Ich habe dieses Buch zweimal gelesen und bin sicher, dass ich es nochmal lesen werde. Es hat so viele Ebenen, es gibt so viel in diesem Roman zu entdecken. Nur für “Das Glasperlenspiel” hat Hermann Hesse den Nobelpreis erhalten. Und was hat Eugen Zeller gemacht? Er hat die erste Rezension dafür geschrieben. Nicht schlecht, oder? Haben sie vielleicht oft über den Roman diskutiert, als Hermann Eugen besuchte? Sind sie zusammen in die Oper, zu Konzerten gegangen, als die Sänger ihre Autogramme im Buch hinterließen? Und wer ist eigentlich der Meister der Musik im “Glasperlenspiel”, der für Josef Knecht so wichtig war?

Bereits in Deutschland fühlte ich mich Hermann Hesse so nahe. Er ist mehr als ein guter Schriftsteller für mich. Ich bin auch mit ihm befreundet. Ich habe dir schon erzählt, dass ich die Museen von Hermann Hesse in Calw und später auch in Montagnola (neben Lugano) besucht habe. Was jetzt durch meinen Kopf geht: Die Briefe von Hesse an Zeller wurden vermutlich zerstört. Macht nichts! Hesse hat doch viele Bücher und Texte geschrieben. Aber vielleicht befinden sich die Briefe von Eugen Zeller an Hermann Hesse irgendwo in einem Museumsarchiv. Die sind für mich viel wichtiger! Und es ist unglaublich spannend!

Es ist, als würde man in ein Schiff steigen und aufs offene Meer hinausfahren. Du suchst eine Insel: Dort gibt es vielleicht Schätze, vielleicht auch Gefahren oder gar nichts... Du kannst es nicht wissen, aber das Abenteuer ist viel interessanter als alle Schätze, die es geben könnte. Und deshalb steigst du ins Schiff ein. Dabei verschwinden Zeit und Raum.

Autogramm von Thomas Mann

Im “Glasperlenspiel” wurde Thomas Mann als Doktor Faustus dargestellt. Im Autogrammbuch haben wir Thomas Manns Unterschrift. Solche Momente faszinieren mich auch! Da kann man auch wohl ein Glasperlenspiel spielen!

So, Livio, ich wollte nur kurz dies mit dir teilen."

Wir planten, nach meiner Rückkehr in die Schweiz nach Ulm zu fahren, wo Jan Haag lebt, einer der Autoren des Buches über Hermann Hesse und unter anderem über Eugen Zeller geforscht hat. Er besaß sicherlich genügend Informationen, die er mit uns teilen könnte. Livio nahm sich vor, den Kontakt zu ihm herzustellen und einen Termin zu vereinbaren. Ich wartete ungeduldig auf meine Rückkehr in die Schweiz und unsere Suche, als ich plötzlich eine ganz andere Stimmung aus Livios nächster E-Mail herauslas.

" ... jetzt muss ich dich leider enttäuschen, liebe Eugenia.

Es scheint, als handele es sich nicht um denselben Eugen Zeller. Ich habe eine Datenbank gefunden, die so ziemlich alle Zellers seit dem 16. Jahrhundert auflistet, inklusive ihrer Ehepartner. Mein Ur-Ur-Großonkel heißt Eugen Karl Zeller und wurde 1873 geboren. Er war Klavierlehrer, Musikdirektor und Tonkünstler. Der Eugen Zeller im Artikel heißt Eugen August Christian Zeller und wurde 1871 geboren. Er war Deutschlehrer und Professor für Philologie. Ich konnte ihn jedoch nicht im Zeller Familienstammbaum finden, was ich etwas merkwürdig finde. Aber möglicherweise sind nicht alle Zellers aufgeführt.

Eugenia, es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Alles hat einfach so gut gepasst. Ich war so besessen davon, dass ich geglaubt habe, diesen Eugen Zeller überall zu sehen und zu erkennen.

Aber nun stehen sich zwei Eugen Zeller gegenüber. Mit dem gleichen Namen und fast zur gleichen Zeit geboren. Einer ist jedoch in Stuttgart geboren. Der andere ist in Stuttgart gestorben. Einer war ein Liebhaber der Literatur, der andere ein Liebhaber der Musik. Sie sind sich so ähnlich und doch so verschieden.

So stehen wir wieder am Anfang. Ich möchte weiterhin herausfinden, wer mein Ur-Ur-Großonkel war. Aber ich verstehe, wenn mein Ur-Ur-Großonkel, Eugen Karl Zeller, für dich weniger interessant ist als Eugen August Christian Zeller, der beste Freund von Hermann Hesse.”

Oft sehen wir das Gewünschte dort, wo es nicht existiert. Man erfindet eine eigene Geschichte mit Charakteren, die dazu passen sollten, wie wir meinen. Das ist ein Teil der Literatur. Doch wenn man eine wahre Geschichte als Grundlage eines Romans nimmt, muss man sich auch an die echten Spuren halten. Mir ging es um das Autogrammbuch als Basis für mein zukünftiges Buchprojekt. Oder eine Landkarte, die mich durch die Geschichte führen würde. Und es ging mir um den Eugen Zeller, dem das Autogrammbuch gehörte. Der seine Fingerabdrücke darauf hinterlassen hat. Deshalb war ich bereit, von vorne zu beginnen. Ich wollte Livio auf dieser Reise begleiten. Ich schrieb ihm:

"Lieber Livio,

ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich über das Autogrammbuch schreiben möchte, weil ich es sehr interessant finde. Ich bin an Bord gegangen, bevor ich von Eugen Zeller und Hermann Hesse erfahren habe. Ich sehe auch jetzt keinen Grund, auszusteigen. Ich sehe aber, dass es immer interessanter für mich wird. Auf hoher See kann es Stürme geben, Piraten können vorbeikommen. Aber ich bin stark genug, sonst würde ich etwas anderes im Leben tun und keine Abenteuer suchen.

Am Anfang hatte ich keine großen Erwartungen. Ich lasse mich vollkommen überraschen. Ich lasse die Geschichte geschehen. Das Buch schreibst du, Livio. Du schreibst es mit deinem Leben, mit deinen Taten. Vieles wurde schon vor hundert Jahren geschrieben, du suchst eine alte Schriftrolle. Ich stehe nur daneben und notiere alles. Meine Arbeit ist nicht groß. Deine Arbeit ist enorm. Du kämpfst so hartnäckig, so selbstlos, um die Lücken in der Geschichte der Menschen und im Gedächtnis der Familie zu füllen. Meine Rolle hier ist es, nur aufmerksam zuzusehen. Deshalb bin ich dankbar, wenn du mit mir weiterhin teilen kannst.

Kann man überhaupt antworten, was besser ist: Literatur oder Musik, Malerei oder Tanz? Die Antwort wird sowieso subjektiv sein. Ich habe keine. Man kann es nicht vergleichen. Ich kenne mich besser in der Literatur aus, das stimmt. Aber ich bin immer froh, etwas Neues zu lernen. Musik ist doch wunderbar! Sie ist eine fast unbekannte Insel für mich. Und wer sagt, dass der Philologe Eugen Zeller aus dem Roman verschwinden muss? Auch Hermann Hesse kann bleiben. Auf dem Schiff ist genug Platz für alle.

Literatur ist begrenzt. Buchstaben, Wörter begrenzen sie. Man schafft es nie, die richtigen Wörter zu finden, um echte Gefühle zu beschreiben. Die Wörter sind von Anfang an sehr limitiert. Die Musik hat hier mehr Freiheit, die Malerei auch. Sie sind grenzenlos. Sie benötigen keine Wörter. Aber vielleicht sage ich das nur, weil ich mit Wörtern arbeite.

Was ich noch denke: Menschen verschwinden nicht mit dem Tod, wenn die Erinnerungen an sie nicht verschwinden. Was dein Ur-Ur-Großonkel jetzt in deinem Leben bewirkt, ist unglaublich! Er hat dich mit Hermann Hesse bekannt gemacht und mit einem anderen Eugen Zeller. Das Autogrammbuch war nur die Einladung zu dieser wunderschönen Reise, die er dir durch fast ein Jahrhundert geschickt hat. Und dabei auch mir.

Sei fest umarmt,

Eugenia"

So standen wir wieder am Anfang des Weges. Nun wussten wir, wer genau "unser" Eugen Zeller war und wo wir seine Spuren suchen mussten.

14.02.2024







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