Ausradierte Kindheit
Diese Folge erzählt den zweiten Teil unserer Reise nach Kreuzlingen, Romanshorn und Konstanz. In Romanshorn versuchten wir, die Stadt zu lesen, um die kleinsten Hinweise über Eugen Zellers Kindheit und Jugend herauszufinden.
Es war ein grauer und regnerischer Nachmittag Ende Mai, als wir das Auto verließen und durch die leeren Straßen von Romanshorn zur Apotheke in der Bahnhofstraße gingen. Die Apotheke war offen, und mittendrin konnten wir viele Porträts der früheren Besitzer sehen. Max Zeller erkannten wir sofort. Im ersten Stock hing bei Erda sein Porträt. Sein vollständiger Name lautete Maximilian Georg Zeller. Er war der Vater von Eugen Zeller sowie von elf weiteren Kindern. Er kam aus Deutschland und ließ sich nach vielen Lehr- und Arbeitsjahren in verschiedenen Städten Deutschlands und der Schweiz 1865 in Romanshorn nieder. Bald trat er in das Geschäft von Paul Friedrich Gaupp ein, der ein Jahr zuvor genau diese Apotheke in der Bahnhofstraße eröffnet hatte. Mit diesem Schritt legte er die ersten und wichtigsten Bausteine im Fundament der heute weltberühmten Max Zeller Söhne AG. 1866 heiratete Max Zeller Paul Gaupps Tochter, Pauline Sophie Julie Gaupp, und 1873 kam in Romanshorn ihr siebtes Kind, Eugen Karl Zeller, zur Welt.
Maximilian Georg Zeller (1834-1912)
Ich war mir sicher, dass auch Eugen diese Apotheke besucht hatte, da sogar seine Mutter Pauline hier ihrem Mann bei der Arbeit geholfen hatte. Wir dachten, vielleicht gelingt es uns, mit dem jetzigen Besitzer dieser Apotheke zu sprechen. Eine freundliche Apothekerin begrüßte uns und musste uns leider mitteilen, dass ausgerechnet an diesem Tag der Chef nicht im Büro war. Sie versicherte uns, dass er sehr gerne mit uns sprechen würde, falls wir an einem anderen Tag vorbeikämen. Wir beschlossen, noch einen Moment in der Apotheke zu bleiben, um uns umzusehen und uns vorzustellen, wie es hier vor über hundert Jahren ausgesehen haben könnte, bevor wir weitergingen.
Wir wollten mehr über Eugens Kindheit und Jugend in Romanshorn herausfinden. In den online verfügbaren Informationen tauchte sein Name erst 1898 auf. Mit 25 lebte er bereits in Stuttgart. Dies konnte Livio im alten Adressbuch finden, ebenso wie seinen Beruf. Die Adresse lautete Weimarstraße 19, Stuttgart, und als Beruf war „Musiklehrer“ eingetragen. Obwohl es damals üblich war, dass Kinder das Geschäft der Eltern übernahmen, wählte Eugen Zeller einen völlig anderen Weg. Hatte er Musik in Romanshorn studiert oder lebte er woanders, bevor er nach Stuttgart zog? Hatte er Druck von seinem Vater, oder unterstützte Max Zeller seine Entscheidung, Musiker zu werden? Hatte er Stuttgart wegen besserer Möglichkeiten für seinen Beruf ausgewählt oder musste er vor seiner Familie „fliehen“? Das würde uns sicherlich kein Archiv verraten. Trotzdem hofften wir, die dünnsten Fäden zu finden, die uns helfen würden, Antworten auf diese Fragen zu vermuten.
Livio hatte bereits die Zeller AG in Romanshorn kontaktiert. Von Max Zeller, der die Leitung der Apotheke in der Bahnhofstraße fast unmittelbar nach seinem Schwiegervater übernahm, ging das Geschäft an seine jüngeren Söhne Max und Albert Zeller über. Und Max Zeller Sohn übergab das Geschäft bereits seinem Sohn – Überraschung! – namens Max Zeller. Mit dem dritten Max Zeller endete der Familienname Zeller in der Dynastie, aber nicht im Firmennamen. Livio hoffte, dass die jetzigen Besitzer ein Familienarchiv oder zumindest Erinnerungen haben, die im Familienkreis aufbewahrt wurden und uns weiterhelfen könnten. Aber auf Livios E-Mail antworteten sie nur kühl und schickten ihm ein Büchlein von Fritz Hauswirth über die Geschichte des Betriebs. Das dünne Büchlein habe ich durchstudiert, aber kein Wort über Eugen Zeller gefunden, was auch nicht überraschte.
Über Eugen Zeller konnte ich nur zwischen den Zeilen etwas erahnen: „Sie (Pauline Sophie Julie Zeller) schenkte ihm (Maximilian Georg Zeller) zwischen 1867 und 1885 zwölf Kinder, von denen drei bereits im Säuglingsalter starben. Für die Zeller-Geschichte sind die beiden Letztgeborenen wichtig: Max und Albert, welche die Apotheke weiterführten.“ Man konnte auch erfahren, dass für Max Zeller neben der Arbeit die Familie wichtig war und es ihm wichtig war, „allen seinen Kindern eine gute Ausbildung zu vermitteln.“
Foto von der Webseite Max Zeller Söhne AG
Als wir in Romanshorn ankamen, wollten wir als Erstes die Zeller AG sehen. Wir wagten es jedoch nicht, ohne Termin durch die Tür zu gehen und ein Gespräch mit dem jetzigen Besitzer zu suchen. Den Betrieb haben wir uns nur aus dem Auto angeschaut und waren erstaunt, wie schnell er gewachsen ist. Maximilian Georg Zeller begann mit dem Zellerbalsam, der ursprünglich Wunderbalsam hieß. Als Erfinder des „Zellerbalsams“ ebnete er den Weg in die Pharmaindustrie für die zukünftige Max Zeller Söhne AG.
Die Apotheke in der Bahnhofstrasse
Durch diese Informationen konnten wir nachvollziehen, in welcher Umgebung Eugen aufwuchs, wollten aber mehr über ihn erfahren. Wie war sein Leben, bevor er nach Stuttgart zog? Da uns auch die Apotheke in der Bahnhofstraße nichts verriet, suchten wir fast tastend die kleinsten Hinweise in der Stadt.
Eine Hoffnung könnte die Kirche sein, die wir in der Nähe sahen. Vielleicht gibt es ein Archiv mit den Tauf-, Trauungs- und anderen wichtigen Lebensereignis-Büchern. Aber auch in der Kirche war niemand. Langsam kam das Gefühl auf, als ob die Stadt eingeschlafen wäre. Als ob vieles auf einmal ausradiert wurde. Auch der Friedhof, den wir später besuchten, schwieg zu uns. Wir sahen viele Gräber, die sichtbar vernachlässigt waren, da sie niemand mehr besuchte und pflegte. Livio sagte, solche Gräber würden mit der Zeit entfernt und durch neue ersetzt. Mir wurde plötzlich traurig. Ich dachte an Eugen Zellers Grab in Stuttgart, das höchstwahrscheinlich nicht mehr existierte. Laut Online-Archiv war er mit Karoline Sophie Franka Most verheiratet, und sie hatten keine Kinder, die sich später um ihre Gräber, sowie um die Erinnerungen und die Spuren ihrer Existenz kümmern könnten.
Wir wussten noch, dass es am Ufer des Sees ein Museum und ein Archiv gibt, das wir unbedingt besuchen wollten. Auf dem Weg zum Hafen versuchten wir, uns die kleinsten Details der Stadt anzusehen und uns das frühere Leben vorzustellen. Wir versuchten, die Stadt als ein wichtiges Dokument zu lesen oder als Rätsel zu lösen.
Als wir das Museum erreichten, erwartete uns die nächste Enttäuschung. Natürlich war es geschlossen. Ich hatte immer das Talent, Museen und Galerien am Montag zu besuchen und jedes Mal vor verschlossener Tür zu stehen. Und jedes Mal vergaß ich, dass alle Museen am Montag zu sind. Kein Museum und kein Archiv waren für uns diesmal verfügbar. Wir saßen eine Weile schweigend auf der Bank am Hafen, der genauso leer war wie der Rest der Stadt. Wir hatten zwar etwas gefunden, aber nicht viel. Wir hatten keinen bestimmten Plan, sondern waren einfach ins Abenteuer eingetaucht und hofften, dass der Zufall uns die wichtigen Antworten und den richtigen Weg weisen würde.
Hatte Eugen Zeller sich in Romanshorn mit Musik vertraut gemacht? Wer hat ihm diese Liebe beigebracht, da fast die ganze Familie mit Pharmakologie und Medizin beschäftigt war? Mit jedem Schritt durch die Stadt tauchten mehr Fragen als Antworten auf.
Auf dem Weg zum Auto fanden wir eine moderne Musikschule, die aber nicht so aussah, als ob sie vor hundert Jahren existiert hätte. Bevor wir die Stadt verließen, wollten wir gemütlich einen Tee zusammen trinken. Es schien jedoch, dass auch alle Cafés an diesem Tag geschlossen waren. Nur ein Blumenladen bot den Kunden neben Blumen einen duftenden Tee an. Wir brauchten diese Pause, um mit dem Duft des Kräutertees auch den Geruch der Stadt nochmals einzuatmen und uns Eugen Zeller in dieser Stadt vorzustellen. Wie war es für ihn, der älteste überlebende Sohn eines berühmten Apothekers zu sein und sich nicht dafür zu entscheiden, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen? Hat er in dieser Stadt gelitten? Er ist ja nie mehr zurückgekehrt und in Stuttgart gestorben.
Wir konnten diese Fragen nicht beantworten, doch wir spürten diese Stadt auf eine unerklärliche Weise. Ohne konkrete Informationen erfuhren wir dennoch viel über Romanshorn und konnten uns sogar vorstellen, wie der junge Eugen durch diese Straßen ging. Vielleicht so ziellos und verloren wie wir jetzt.
Um diese Reise wie einen perfekten Kreis zu schließen, wollten wir noch unbedingt Konstanz besuchen. Wir wollten Kreuzlingen, wo Erda geboren wurde, von einem anderen Ufer aus sehen und uns nochmals an einen kleinen Dackel erinnern, für den keine Grenzen existierten und der allein mit dem Bus zu einem anderen Ufer des Bodensees in Konstanz für einen Spaziergang gefahren war. Wir wollten von Distanz, Erdas und Eugens frühere Lebensjahre anschauen, vielleicht fällt etwas ein, was man von Nahe nicht sehen kann. Erdas Familienhaus mit der Praxis, wo am Abend musiziert wurde und gemütlich in einem engen Kreis Konzerte stattfand. Moment mal… vielleicht besuchte ab und zu Eugen Zeller diese Musikabende seiner Verwandten?
Ich muss mir gleich eine Notiz davon für den zukünftigen Roman über Eugen Zeller machen!